Vier Bausteine für ein »Web des Wissens«
Weltweit existieren tausende von Projekten, meist enthusiastisch getragen von Universitäts- oder Forschungsbibliotheken, die sich bemühen ihre Bestände zu digitalisieren und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Auch am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte existieren etliche Projekte dieser Art. Doch was schon die Projekte an einem Institut nur schwer realisieren können, können die tausende anderen Digitalisierungsprojekte auf der Welt noch schwerer: Sie wissen nichts voneinander, sie stecken im Elfenbeinturm der eigenen Einrichtung fest.
Das heißt auch: Jedes dieser Projekte besitzt in der Regel einen eigenen Werkzeugkasten für Annotationen, Kommentare, Bemerkungen, Übernahme in den OPAC oder in ein Literaturverzeichnis etc. Doch der Wissenschaftler sucht ja nicht in einer Quelle, sondern in vielen. Was fehlt, ist ein daher Facebook für Wissenschaftler, wo diese entweder allein oder in einer Gruppe mit Kollegen diverse Quellen verwalten, ergänzen, sammeln und kommentieren können.
Außerdem ist der moderne Wissenschaftler ein Nomade. Das hat zur Konsequenz, daß dieses Wissenschaftler-Facebook nicht an eine wissenschaftliche Einrichtung angebunden werden kann, da dann der Wissenschaftler den Zugriff verliert, wenn er diese Institution verläßt. Daher müßte dieses Werkzeuge als Peer-to-Peer-Werkzeug konstruiert werden, als so etwas wie ein Webserver auf dem Desktop, der sich mit all den anderen persönlichen Wissenschaftler-Facebooks verbinden und kommunizieren kann.
Das bedeutet wiederum, es müssen gemeinsame Protokolle gefunden werden, mit denen diese Werkzeuge miteinander »reden«. Und es müssen offene Protokolle sein, da es durchaus unterschiedliche Werkzeuge für unterschiedliche Betriebssysteme in unterschiedlichen Sprachen programmiert geben kann. Aus heutiger Sicht bieten sich RSS/Atom, XMPP (Jabber), XML-RPC und REST als diese gemeinsamen, offenen Protokolle an.
Drittens sollten diese Werkzeuge es erlauben, daß sich der Wissenschaftler seine eigenen Workflows zusammenbaut - entweder in Form von Glue-Skripten oder aber auch als graphische Ablaufpläne, wie zum Beispiel in Yahoo! Pipes. Da man da womöglich auch in den Quellcode der Anwendung eingreifen muß, stellt sich die Forderung nach Open Source.
Und nicht zuletzt habe ich die Erfahrung gemacht, daß sich Wissenschaftler schwer tun, ihre eigenen, liebevoll gepflegten Sammlungen in die Datensilos der Großprojekte zu versenken. Denn auf der gleichen, oben skizzierten Basis lassen sich auch dezentrale Sammlungen realisieren:
Der Webserver auf dem Desktop (er kann genau so als Server für eine Gruppe wie auch als Server für einen Einzelnen dienen) übernimmt die Verwaltung der Sammlung und informiert die Mitglieder der entsprechende Gruppe(n) per XMPP über Neuerungen, Änderungen etc. Die Sammlung selber wird auf einen Webserver der Wahl hochgeladen und steht dort der Allgemeinheit zur Verfügung.
Fassen wir also zusammen: Jeder Wissenschaftler wird zum potentiellen Wissensproduzenten der sein Wissen dezentral aber frei der Allgemeinheit zur Verfügung stellt (P2P, Open Access). Dieses Wissens wird mittels einfacher Tools miteinander vernetzt (Offene Protokolle). Und diese Tools können von den Wissensproduzenten selber an ihre Bedürfnisse angepaßt werden (Open Source).
Daher sind ein dezentrales Netz, Open Access, Offene Protokolle und Open Source die Bausteine für ein zukünftiges Web des Wissens, ein Web des Wissens, das den Namen »Netz« auch verdient.
Erstveröffentlichung unter dem Titel Digitaler Wissensbetrieb: Nomaden des Wissens, The European vom 5. Juni 2011