Jörgs Arbeitsnotizen


Das Urheberrecht im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit

Sie haben sicher keine Angst davor, daß Ihre Ehefrau und Ihre Kinder fünfmal vor Ihrer Zelle „Happy Birthday“ singen müssen, nur weil Sie sich einen Film aus dem Internet heruntergeladen haben. Daß Ihnen dies ein populärer Spot der Medienindustrie weißmachen will, zeigt, welche Panik die Industrie vor dem Netz hat — aber auch, mit welch harten Bandagen gefochten wird. Woher kommt nun diese Panik?

Um dies zu verstehen, müssen wir ein wenig in die Betriebswirtschaftslehre eintauchen. Wir alle wissen von den Protagonisten des Fließbandes, Ford und Taylor, daß Massenproduktion eine Ware verbilligt. Denn zur Produktion eines Gutes gehören die fixen Kosten, die unabhängig von den produzierten Stückzahlen entstehen, also zum Beispiel der Miete der Werkshalle oder der Kauf der Maschinen. Und die variablen Kosten, also zum Beispiel die Materialkosten oder die anteiligen Lohnkosten. Und je mehr Güter man produziert, desto geringer wird der Anteil der fixen Kosten an einem Gut, im Extremfall entstehen nur noch variable Kosten.

Die Reproduktion, also die Vervielfältigung oder Massenfertigung eines digitalisierten Gutes — sei es ein Film, ein Musikstück oder ein Text — besitzt nun aber die Eigenschaft, mehr oder weniger kostenfrei zu sein. Denn für das Speichern, Kopieren und Herunterladen fallen nur noch minimale bis gar keine Kosten an. Das heißt, die variablen Kosten gehen gegen Null.

Andererseits können digitalisierte Güter einen nahezu unbegrenzten Kundenkreis erreichen. Und wie Sie vielleicht noch aus dem Mathematikunterricht wissen, ergibt jede noch so große Zahl geteilt durch Unendlich Null. Das heißt aber, daß auch die fixen Kosten gegen Null tendieren.

Variable und fixe Kosten zusammen ergeben den Tauschwert einer Ware, also den Wert, den das Unternehmen mindestens einnehmen muß, um seine Kosten hereinzuspielen. Dem steht der Gebrauchswert gegenüber, also der Wert, den der Kunde maximal bereit ist, für ein Gut zu zahlen. Tausch- und Gebrauchswert werden in unserer Gesellschaft in Geld ausgedrückt, Gebrauchs- minus Tauschwert ergeben den Gewinn oder Verlust eines Unternehmens. Und Dinge, die einen Gebrauchs- und Tauschwert haben, den man in Geld ausdrücken kann, nennt man „Waren“.

Nun haben aber digitalisierte Güter keinen in Geld ausdrückbaren Tausch-wert mehr. Und einen Gebrauchswert? Den haben sie sicherlich, denn sonst würden man sich ja einen Film oder ein Musikstück nicht herunterladen. Aber Geld zahlen will dafür eigentlich niemand, und das nicht nur aus Geiz. Denn wenn der Tauschwert nicht mehr in Geld meßbar ist, dann läßt sich auch der Gebrauchswert digitaler Güter nur noch schwerlich in Geld ausdrücken. Die Digitalisate haben ihren Warencharakter und das Geld seine Rolle als allgmeines Äquivalent verloren.

Was für Konsequenzen ergeben sich daraus? Nun, die Medienindustrie kann versuchen, ihre Produkte künstlich zu verknappen. Digitales Rechtemanagement, Kopierschutz, kostenpflichtige Apps — all dies sind Strategien der Verknappung. Damit wird der Warencharakter der Digitalisate wieder hergestellt. Doch läßt sich dies nur mit massiven statlichen, wirtschaftlichen und juristischen Eingriffen durchsetzen. Die Verschärfungen und Einschränkungen des Urheberrechts gehören ebenso dazu, wie die Angriffe auf die Netzneutralität oder der Versuch, Internetsperren durchzusetzen.

Oder man kann versuchen, damit zu leben. Die Strategie der Filmindustrie, Kinoabende als „Event“ zu zelebrieren ist ein Weg dorthin. Oder der Versuch der Unterhaltungsmusiker, wieder mehr von ihren Konzerten als von ihren Platteneinnahmen zu leben, ein anderer.

Man kann es nämlich auch positiv sehen. André Gorz formulierte es schon 2003 so:

Alles formalisierbare Wissen kann von seinen stofflichen und menschlichen Trägern abgetrennt, als Software praktisch kostenlos vervielfältigt und in Universalmaschinen unbeschränkt genützt werden. Je weiter es sich verbreitet, umso größer sein gesellschaftlicher Nutzen. Sein Warenwert hingegen schwindet mit seiner Verbreitung und tendiert gegen Null: Es wird zu allgemein zugänglichem Gemeingut.

Das digitalisierte Wissen der Welt als allgemein zugängliches Gemeingut. Das halte ich für ein schöne, erstrebenswerte Utopie. Zu der schon Bertolt Brecht meinte: „Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.“


Erstveröffentlichung unter dem Titel Geld schafft sich ab im Netz! Digitalisiertes Wissen wird zum Gemeingut, Deutschlandradio Kultur — Politisches Feuilleton, gesendet am 23. November 2010

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